Vom Fetisch der Unbeirrtheit – "Psychohygiene"

Temple of torturous - VÖ: 1.1.2011

Wow, hier hat sich jemand ja wirklich ins Zeug gelegt. Da möchte jemand mit aller Macht seine geistigen Ergüsse an den Mann/die Frau bringen. „Vom Fetisch der Unbeirrtheit“ nennt sich die Band/das Projekt. Digipak kann man das gar nicht nennen, in welches das Werk gepresst wurde. Es sieht aus wie ein Buch, entpuppt sich auch als solches, nur dass noch 2 CDs beiliegen. Fakt ist, die ganze Aufmachung von „Psychohygiene“ macht zumindest unglaublich neugierig. Wenn hier so viel Energie drinsteckt, dass man mehr als 30 Seiten (etwas kleiner als A5) mit Texten und Bildern gefüllt hat sowie gleich 2 CDs mit mehr als 100 Minuten Spielzeit produziert hat, dann meinen die Protagonisten es ernst. Selbige nennen sich nur P. und R., es darf also wild spekuliert werden, wer dahintersteckt. Als Kontaktadresse wird ein Label in China angegeben, was keines weiteren Kommentars bedarf, denke ich. Aufgrund der deutschsprachigen Texte liegt es aber auf der Hand, dass die Initiatoren direkt unter uns weilen. 

Während ich die erste der beiden CDs anteste, lasse ich nebenbei die Gestaltung des Booklets auf mich wirken, bzw. ich möchte es Buch nennen. Für zartbesaitete Seelchen ist das wahrlich nichts, wird man doch mit Bildern von Leichen, bei denen man nie weiß, wie viel daran echt ist (von denen viele offensichtlich Mordopfer sind) und degenerierten und entstellten Föten (hier zum Glück offensichtlich Animationen bzw. Fotomontagen) konfrontiert, sowie mit Zeichnungen von Föten, die gerade den Mutterleib verlassen und dabei erbärmlich aussehen. Hier bringt jemand seine Abscheu vor allem zu Ausdruck, was visuell nicht einwandfrei anzusehen ist (was also auf fast alle biologischen Vorgänge des Menschen zutrifft bzw. eigentlich alle existierenden Menschen einschließt), außerdem scheint hier jemand einen Hass speziell auf Frauen entwickelt zu haben bzw. sogar auf sich selbst, einfach weil er von einer Frau geboren wurde, denn zwischen all den anderen menschenverachtenden Inhalten, die sich später in den Texten auftun werden, wird immer wieder der Moment besungen, in dem ein Kind (vom Verfasser prinzipiell nur als Fötus bezeichnet) das Licht der Welt erblickt, welches immer wieder als widerlichster Vorgang beschrieben wird, den man sich vorstellen kann bzw. als das schrecklichste, was ihm selbst passieren konnte, wenn man davon ausgeht, dass er seine Motivation zu den Texten rein aus sich selbst geschöpft hat, was ja naheliegt.

Doch (um auf die Fotos im Buch zurückzukommen), es wird noch schlimmer: sezierte Gehirne, verweste Leichen, Opfer medizinischer Versuche u.a. mehr. Ich frage mich, wie das Album die Zensur überstanden hat (besonders im Hinblick auf die Lyrics zum Track „Imperativ: Kategorische Zerstörung, XIIIx Losgelöst“, der jedem Sadisten noch das Fürchten lehrt), wahrscheinlich brauchte man deshalb das Label in China? 

Doch zum musikalischen: die meisten Tracks sind sehr verzerrt, mit Metal möchte man das eigentlich nicht in Verbindung bringen, eher mit Experimental bzw. Avantgarde (wobei die erste CD "Antipodensystem I" noch eher etwas Metallisches hat, während "Antipodensystem II" elektronischer ist, Richtung Ambient). Die ganze Wirkung setzt auf das Zusammenspiel von Tönen und Geräuschen; Melodien, denen man leicht folgen kann, sind Mangelware. Mitten in dieses Tongetümmel mischt sich das, was wohl die Vocals sein sollen: Sprechgesang, halb jammernd, halb angewidert (und sehr im Hintergrund, nur ganz selten mal deutlich im Vordergrund). Je nach Track fügen sich zumindest ein paar Tonfolgen ein, denen man kurzzeitig gut folgen kann, auch ein paar Gitarrenriffs, die halbwegs klar sind und Sinn machen. Trotzdem: harter Tobak! 

Insofern entschließe ich mich, mir nun die Texte (welche jeweils auf deutsch und in der englischen Übersetzung abgedruckt sind) zu Gemüte zu ziehen, während die Musik weiterläuft.

Auf der ersten Seite des Booklets wird man mit wenigen Worten „begrüßt“, die genauso abstrakt sind wie die Musik. Man wird durch diese Introduktion darauf vorbereitet, dass man im Buch wohl mit Lyrics konfrontiert wird, die zuerst eines Studiums bedürfen bzw. damit, dass man sich wirklich damit auseinandersetzt, bevor sich einem vielleicht der Sinn erschließt. Aber ich möchte meinen, dass ich neben vielen anderen angesprochenen Aspekten zumindest herauslese, dass man nicht damit einverstanden ist, wohin sich manche Menschen (bzw. im Zweifelsfall die gesamte Menschheit) entwickelt hat (bzw. dass sie überhaupt existiert). Die Menschen sind gefangen in dem Gemisch aus anerzogenen Verhaltensmustern, den ewigen Bedürfnissen des Fleisches und der eigentlichen Machtlosigkeit und Nutzlosigkeit ihrer Existenz (und dies im Gegensatz zu ihrem Allmachtsdenken und den dadurch entstehenden Konflikten). Ein Umdenken bzw. das „Reinigen“ des Gehirns stünden nach Meinung der Verfasser wohl an, wenn nicht sogar die Reinigung der ganzen Welt von der gesamten Menschheit.

Auch einige langsame Tracks gibt es. Sind die meisten Songs hart und abstrakt, wird es zwischendurch durchaus auch mal angenehm und sphärisch, vor allem auf der 2. CD. So gibt es wenige Stücke, in denen ruhige Synthesizerklänge die Oberhand gewinnen, im Hintergrund spricht der Vokalist die Lyrics und nur wenige abstrakte Geräusche mischen sich unter die Hauptharmonien. Es werden einem also auch Moment der Ruhe gegönnt. Ruhe nur im musikalischen Sinn. Aufwühlend ist das, was man hört, trotzdem. Doch bei den meisten Stücken gesellen sich im Laufe des Songs bizarre Gitarrenklänge und Samples hinzu und man wird in angsteinflößende Klangteppiche gehüllt, die hart und kompromisslos sind. Leider sind diese von der Qualität her nicht besonders hochwertig, aber man gewöhnt sich schnell daran. Außerdem passt dieser Sound-Stil zum abgefuckten Rest des Albums. 

Im Stück „Anschließendes Verstummen“ spielen die Musiker lyrisch mit dem Gedanken daran, wie es ist, eine Frau nach Misshandlung zu töten (und zwar eine, die man besser kennt, heißt es doch im Text „Wie viele „unersetzbare“ Worte deiner heiseren Stimme werden der Welt verloren gehen....“ ) und spielen gedanklich durch, was man ihr wohl vorm Tod sagen würde (oder sich nur denken würde, ohne es zu sagen). Die Annahme eines gewissen Hasses gegen Frauen bestätigt sich also. Wenn man das ganze in deutscher Sprache nachlesen kann, wirkt so ein Text natürlich viel grotesker als wenn man es in Splatter-Thrash eingebettet in einer fremden Sprache hört (wo sich ja auch keiner aufregt, also: Moralapostel: Mund halten! Dies läuft unter Kunstfreiheit, Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes.). Außerdem nützt es jetzt gar nichts, zu sagen, die Lyrics seien so widerlich, dass man sich damit nicht beschäftigen will (oder aus moralischen Gründen nicht darüber schreiben sollte o.a.). Solange es solche Gedanken und auch in der Realität wahrgewordene Ausschweifungen in dieser Richtung gibt, muss man sich damit auseinandersetzen, da es Ausgeburten unserer Gesellschaft/ Entwicklung sind bzw. das, was einige Menschen, die unter uns leben, umtreibt. 
Außerdem bleibt ungeklärt, ob der Künstler über seine eigenen Gelüste singt, oder ob er nur aufzeigen will, welche Abgründe es in den Köpfen mancher unserer Mitmenschen gibt. 

Aber mal abgesehen von diesem speziellen Track äußert man lyrisch ansonsten zumeist Gedanken und Zweifel über die Daseinsberechtigung entweder bestimmter oder aber aller Menschen. Der Grundgedanke sagt aus, dass die Menschen eh zum aussterben verdammt sind. Man setzt sich damit auseinander, welchen Sinn ihre Existenz bis dahin überhaupt noch hat. Immer wieder äußert sich der Ekel vor dem, was das menschliche Gehirn hervorbringt. Es würde mit Sicherheit Stunden bzw. Tage dauern, jeden einzelnen Gedanken aufzuschreiben, der einem als Hörer beim „Anti-Genuss“ dieser Musik durch den Kopf geht. Insofern sei nur soviel gesagt: wer darauf gewartet hat, mal ein Album in die Hand zu bekommen, wo man sich stundenlang damit beschäftigen kann, die Lyrics zu interpretieren, um vielleicht neue geistige Anregungen für Erkenntnisprozesse zu gewinnen (wenn auch nur für die Bestätigung der Vermutung, dass Menschen zum Aussterben verdammtes nutzloses Fleisch sind), der wird mit „Psychohygiene“ sein Geld sicher gut angelegt haben. Ich kann zumindest dafür garantieren, dass man halb fasziniert (wegen der künstlerischen Einbettung der Motive), halb angeekelt (wegen der Widerwärtigkeit der abgebildeten Körper), aber in jedem Fall mit Interesse das Booklet studieren wird und lange damit beschäftigt sein wird, sich mit den Texten auseinander zu setzen. 

Das gleiche gilt für die Musik. Es braucht sicher viele Anläufe, um annähernd alles zu erfassen, was die beiden Scheiben beinhalten. Es würde den Rahmen sprengen, musikalisch auf jeden der 16 Songs einzugehen. Es ist zwar so, dass die Kompositionen bizarr und schwer zu verdauen sind, bieten dafür aber auch eine Fülle an avantgardistischen Ideen, die Abwechslung bieten und einen abtauchen lassen in die sehr aktive Gedankenwelt der/des Komponisten. Auch ist nicht alles ein Kessel voller absurder Soundfragmente, es kommt oftmals schon zu einem musikalischen Fluss, mit dem man sich identifizieren kann (und in den Passagen, wo man es nicht kann, kann der ein oder andere vielleicht zumindest den Schauer genießen, den einem das Album über den Rücken jagen wird). In seiner visuellen und auditiven Komplexität bietet „Psychohygiene“ zumindest viel Stoff für geistige Arbeit, auch wenn man danach vielleicht zu dem Schluss kommt, dass man sich mit all dem vielleicht doch überfordert fühlt. 

Ob das Werk aus der Feder eines großartigen Künstlers stammt oder aus der eines absoluten Psychopathen darf jeder für sich selbst entscheiden.... 
Man könnte, wenn man eine blühende Fantasie hätte, meinen, dieses Digi-Werk ist ein Experiment von (bisher) unbekannt, um zu testen, ob Magazine wirklich jeden Scheiß rezensieren. Aber andererseits ist der Stoff dafür zu krank, um mal eben zu Zwecken der Forschung geschrieben zu sein. Hinter so viel vertonter Abscheu stecken wahre Emotionen und ein entweder wahrhaft kranker Kopf oder ein absolutes Genie (dass beides oft nah beieinander liegt, weiß man ja inzwischen...).

Ich kann hier die Punkte auch nur für künstlerische Aspekte vergeben (inklusive Abzug für Sound-Makel, zuzüglich der Pluspunkte dafür, dass man den Hörer ECHT in Anspruch nimmt und ihn zum Nachdenken bringt). Die Punktezahl spiegelt hier ausnahmsweise in keiner Weise wider, ob mir persönlich irgend was an dem Album gefällt oder nicht.

Da auch die Band mit Widersprüchen in ihren Begriffskopplungen arbeitet, will ich das jetzt auch mal tun und als Schlusswort den Ausdruck „ansprechend-scheußlich“ verwenden.

Abschließende Warnung: keinesfalls Minderjährigen zugänglich machen!

Anspieltip „Non-Narkotikum“                                                                      7,5 von 10 Punkten

Review von Twilightheart

 

 

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